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Der Zweite Offizier vom ›Seeteufel‹

 

Der Bahnhof von La Bréauté, wo Kommissar Maigret morgens um halb acht die Hauptstrecke Paris-Le Havre verließ, vermittelte ihm einen Vorgeschmack von Fécamp.

Eine schlecht beleuchtete Bahnhofswirtschaft mit schmutzigen Wänden und einer Theke, auf der ein paar trockene Kuchen schimmelten und drei Bananen mit fünf Apfelsinen versuchten, eine Pyramide zu bilden.

Hier machte sich das Unwetter noch stärker bemerkbar. Es goß in Strömen. Um von einem Bahnsteig zum anderen zu gelangen, mußte man bis zu den Knöcheln im Matsch waten.

Ein schäbiger kleiner Zug, der aus ausrangierten Waggons zusammengesetzt war. Im fahlen Licht des anbrechenden Tages zeichneten sich undeutlich Bauernhöfe ab, die hinter den Regenschraffuren fast verschwanden.

Fécamp! Ein strenger Geruch nach Dorsch und Hering. Haufen von Fässern. Masten hinter den Lokomotiven. Irgendwo heulte eine Sirene.

»Zum Quai des Beiges?«

Gleich geradeaus. Er brauchte nur durch die dicken Pfützen zu gehen, in denen Fischschuppen schimmerten und Eingeweide faulten.

Der Kunstfotograf war zugleich Krämer und Zeitschriftenhändler. Er verkaufte Südwester, rote Seemannsblusen aus Segeltuch, Hanfseile und Neujahrskarten.

Ein schmächtiger, farbloser Mann, der seine Frau zu Hilfe rief, sobald das Wort Polizei gefallen war. Und sie, eine schöne Normannin, sah Maigret in die Augen, schien ihn herauszufordern.

»Können Sie mir sagen, welches Foto in diesem Umschlag gesteckt hat?« Es dauerte lange. Jedes Wort mußte er dem Fotografen aus der Nase ziehen, für ihn nachdenken.

Das Bild war mindestens acht Jahre alt, denn seit jener Zeit machte der Fotograf keine solchen Aufnahmen mehr. Er hatte sich einen neuen Apparat für Postkartenformat gekauft.

Wer hatte sich vor acht Jahren fotografieren lassen? Herr Moutet brauchte eine Viertelstunde, um sich daran zu erinnern, daß er einen Abzug von jedem bei ihm gemachten Porträt in einem Album aufbewahrte.

Seine Frau ging das Album holen. Seeleute kamen und gingen. Kinder verlangten für einen Sou Bonbons. Draußen knarrten Schiffstakelagen. Man hörte, wie das Meer lauter Kieselsteine an den Deich kullern ließ.

Maigret blätterte in dem Album und präzisierte:

»Eine junge Frau mit sehr feinem braunem Haar …«

Das genügte.

»Frau Swaan!« rief der Fotograf.

Er fand das Bild sofort. Es war das einzige Mal, daß er ein vorzeigbares Modell gehabt hatte.

Die Frau war hübsch. Sie schien etwa zwanzig Jahre alt zu sein. Das Foto paßte genau in den Umschlag.

»Wer ist das?«

»Sie wohnt noch immer in Fécamp. Aber jetzt besitzt sie eine Villa am Rande der Steilküste, fünf Minuten vom Kasino …«

»Verheiratet?«

»Damals war sie es nicht. Sie hatte die Kasse im Hotel Du Chemin-de-Fer unter sich.«

»Natürlich gegenüber dem Bahnhof!«

»Ja, Sie haben es im Vorbeigehen sehen müssen. Sie ist Waise, aus einem kleinen Ort in dieser Gegend, Les Loges, kennen Sie ihn? Sie hat im Hotel einen Reisenden kennengelernt, der dort abgestiegen ist, einen Ausländer … Sie haben geheiratet … Zur Zeit lebt sie mit ihren zwei Kindern und einem Dienstmädchen in dieser Villa …«

»Herr Swaan wohnt nicht in Fécamp?«

Schweigen, der Fotograf und seine Frau tauschten Blicke aus. Dann redete die Frau.

»Da Sie ja von der Polizei sind, ist es wohl besser, alles zu sagen, nicht wahr? Übrigens würden Sie es sowieso erfahren … Es sind nur Gerüchte … Herr Swaan ist fast nie in Fécamp. Wenn er kommt, dann nur für ein paar Tage … Manchmal ist er auch bloß auf der Durchreise …

Als er hierher kam, war der Krieg gerade vorbei … Die Leute hier waren dabei, den Fischfang in Neufundland neu zu organisieren, auf den sie fünf Jahre lang verzichten mußten …

Er wollte angeblich diese Dinge prüfen und Geld in die Geschäfte stecken, die sich zu entwickeln begannen.

Er behauptete, Norweger zu sein … Mit Vornamen heißt er Olaf … Die Heringsfischer, die manchmal bis nach Norwegen fahren, sagen, daß es da oben viele Leute gibt, die so heißen …

Trotzdem ist das Gerücht umgegangen, daß er in Wirklichkeit ein Deutscher ist, der mit Spionage zu tun hat.

Deshalb hat man sich, als er heiratete, von seiner Frau zurückgezogen …

Dann hieß es, daß er Seemann war, daß er als Zweiter Offizier an Bord eines deutschen Handelsschiffes fuhr und daß er deswegen so selten hier auftauchte …

Am Ende hat man sich nicht mehr darum gekümmert, aber die Leute sind hier sowieso mißtrauisch …«

»Sagten Sie nicht, daß er Kinder hat?«

»Zwei … Ein kleines Mädchen von drei Jahren und ein Baby von ein paar Monaten …«

Maigret löste das Foto aus dem Album und ließ sich den Weg zur Villa zeigen. Es war noch zu früh, um dort einen Besuch zu machen. So wartete er zwei Stunden in einem Hafencafé und hörte den Fischern bei ihren Gesprächen über den Heringsfang zu, der gerade in vollem Gang war. Fünf schwarze Schleppnetzboote lagen am Quai. Die Fische wurden fässerweise ausgeladen, und trotz des Sturms war die Luft von dem Gestank erfüllt.

Um zu der Villa zu gelangen, ging er den menschenleeren Deich entlang und um das Kasino herum, an dessen Wänden noch die Plakate vom letzten Sommer hingen.

Dann stieg er einen Pfad hinauf, der vom Fuß der Steilküste aufwärts führte. Hier und da gewahrte er den Zaun einer Villa. Die von ihm gesuchte war ein ansehnlicher Backsteinbau mittlerer Größe. Man merkte, daß der Garten mit seinen weißen Kieswegen während der schönen Jahreszeit sorgfältig gepflegt wurde. Von den Fenstern aus mußte man einen weiten Blick haben.

 

Er klingelte. Eine dänische Dogge kam, wirkte nur um so gefährlicher, als sie nicht bellte, und beschnüffelte ihn durch das Gitter. Beim zweiten Schellen erschien ein Dienstmädchen, sperrte den Hund in den Zwinger und fragte:

»Was wünschen Sie bitte?«

Ihre Sprache verriet den einheimischen Akzent.

»Ich möchte gerne Herrn Swaan sprechen.«

Sie schien zu zögern.

»Ich weiß nicht, ob der Herr zu Hause ist … Ich werde fragen …«

Sie hatte das Tor nicht geöffnet. Es regnete immer noch in Strömen. Maigret war durch und durch naß.

Er sah, wie das Mädchen die Stufen hinaufstieg und im Haus verschwand. Dann bewegte sich eine Gardine hinter einem Fenster. Kurz darauf kam das Mädchen zurück.

»Der Herr wird erst in ein paar Wochen wieder hier sein. Er ist in Bremen …«

»Dann möchte ich Frau Swaan sprechen …«

Wieder zögerte sie, machte aber das Tor auf.

»Die gnädige Frau ist noch nicht angekleidet. Sie müssen sich ein wenig gedulden …« Triefend naß, wie er war, wurde er in ein gepflegtes Wohnzimmer geführt. Vor den Fenstern hingen weiße Gardinen, der Parkettfußboden war gebohnert. Die Einrichtung bestand aus neuen Möbeln, wie sie in jedem kleinbürgerlichen Haushalt zu finden sind. Sie waren von guter Qualität und in dem Stil, den man um 1900 als modern bezeichnete. Helle Eiche.

Mitten auf dem Tisch Blumen in einer kunstgewerblichen Steingutvase. Deckchen mit englischer Stickerei.

Auf einem runden Tischchen hingegen ein herrlich ziselierter, silberner Samowar, der allein mehr wert war als das übrige Mobiliar zusammen.

Irgendwo in der ersten Etage wurden Geräusche laut. Außerdem weinte hinter einer Wand im Erdgeschoß ein Kleinkind, und eine Stimme murmelte etwas in eintönigem, gedämpftem Ton, um es zu trösten.

Nach einer Weile leise gleitende Schritte im Flur. Die Tür ging auf. Und Kommissar Maigret stand einer jungen Frau gegenüber, die sich eilig angekleidet hatte, um ihn zu empfangen. Sie war mittelgroß, eher rundlich als schlank und hatte ein hübsches, ernstes Gesicht, auf dem sich in diesem Augenblick eine gewisse Unruhe abzeichnete.

Dennoch lächelte sie und sagte:

»Aber Sie haben ja gar nicht Platz genommen!«

Von Maigrets Mantel, von seiner Hose, seinen Schuhen rann das Wasser auf den gewachsten Fußboden und bildete kleine Lachen. So konnte er sich unmöglich auf die hellgrünen Velourssessel des Wohnzimmers setzen.

»Sie sind Frau Swaan?«

»Ja …«

Sie sah ihn fragend an.

»Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe … Es handelt sich um eine reine Formalität … Ich bin von der Ausländerpolizei … Wir machen zur Zeit eine Volkszählung …«

Sie schwieg. Sie schien weder weiter besorgt noch wirklich beruhigt zu sein.

»Herr Swaan ist doch Schwede, nicht wahr?«

»Verzeihung … Norweger … Aber für einen Franzosen ist das dasselbe … Ich selbst hab am Anfang …«

»Er ist Marineoffizier?«

»Er fährt als Zweiter Offizier auf dem ›Seeteufel‹, aus Bremen …«

»Richtig … Er arbeitet also für eine deutsche Gesellschaft.«

Sie errötete leicht.

»Der Reeder ist Deutscher, ja … Wenigstens auf dem Papier …«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich glaube nicht, daß es nötig ist, Ihnen das zu verheimlichen … Sie wissen sicher, daß es seit dem Krieg eine Krise bei der Handelsmarine gibt … Selbst hier wird man Ihnen eine Reihe von Kapitänen zur See nennen können, die keine Stelle haben und gezwungen sind, sich als Zweite oder Dritte Offiziere anheuern zu lassen. Andere arbeiten als Fischer bei Neufundland oder in der Nordsee.«

Sie redete ein wenig überstürzt, aber mit sanfter, gleichbleibender Stimme.

»Mein Mann wollte keinen Vertrag für den Pazifik unterschreiben, wo es mehr zu tun gibt, denn dann hätte er nur alle zwei Jahre nach Europa kommen können … Kurz nach unserer Heirat rüsteten einige Amerikaner den ›Seeteufel‹ unter dem Namen eines deutschen Reeders aus … Und Olaf ist extra nach Fécamp gekommen, um sich zu überzeugen, daß hier nicht andere Schoner zum Verkauf standen …

Sie verstehen jetzt … Es ging um Alkoholschmuggel in die Vereinigten Staaten …

Große Gesellschaften wurden gegründet, mit amerikanischem Kapital. Sie haben ihren Sitz in Frankreich, Holland oder in Deutschland … In Wirklichkeit arbeitet mein Mann für eine dieser Gesellschaften. Wo der ›Seeteufel‹ eingesetzt ist, das nennen sie die ›Straße des Rums‹.

Er hat also mit Deutschland nichts zu tun …«

»Ist er zur Zeit auf See?« fragte Maigret, ohne das hübsche Gesicht, das etwas Offenes und manchmal sogar etwas Rührendes hatte, aus den Augen zu lassen.

»Ich glaube nicht. Sie werden verstehen, daß diese Fahrten nicht so regelmäßig stattfinden wie die von Passagierdampfern. Aber ich versuche immer, mir die Position des ›Seeteufel‹ so ungefähr auszurechnen. Jetzt müßte er in Bremen sein oder jeden Augenblick dort einlaufen …«

»Sind Sie schon einmal in Norwegen gewesen?«

»Noch nie! Ich habe die Normandie sozusagen nicht verlassen. Höchstens zwei- oder dreimal bin ich für ein paar Tage in Paris gewesen.«

»Mit Ihrem Mann?«

»Ja … Unter anderem auf unserer Hochzeitsreise.«

»Er ist blond, nicht wahr?«

»Ja … Warum fragen Sie mich das?«

»Mit einem kleinen hellen Schnurrbart, der dicht über den Lippen abrasiert ist?«

»Ja … Ich kann Ihnen übrigens ein Foto von ihm zeigen.«

Sie öffnete eine Tür und ging hinaus. Maigret hörte, wie sie im Nachbarzimmer umherging.

Sie blieb länger weg, als einzusehen war. Und im Haus waren Geräusche von sich öffnenden und schließenden Türen zu vernehmen, ein kaum erklärbares Hin und Her.

Schließlich erschien sie wieder, ein wenig verwirrt.

»Entschuldigen Sie …«, sagte sie. »Ich kann das Bild nicht finden … Wo Kinder sind, herrscht immer Unordnung im Haus …«

»Eine Frage noch … Wie vielen Leuten haben Sie dieses Foto von sich gegeben?«

Er zeigte ihr den Abzug, den der Fotograf ihm überlassen hatte. Frau Swaan wurde puterrot und stammelte:

»Ich verstehe nicht …«

»Ihr Mann hat doch sicher ein Exemplar? …«

»Ja … Wir waren verlobt, als …«

»Kein anderer Mann besitzt dieses Foto?«

Sie war nahe daran, zu weinen. Das Zucken um ihre Lippen verriet ihre Verwirrung.

»Keiner …«

»Ich danke Ihnen, Frau Swaan …«

Als er hinausging, schlüpfte ein kleines Mädchen in den Vorraum. Maigret brauchte sich dieses Gesicht nicht genauer anzusehen. Es war das lebendige Porträt von Pietr, dem Letten.

»Olga! …« schimpfte die Mutter und schob das Kind zu einer halbgeöffneten Tür.

Der Kommissar stand wieder draußen im Regen und Matsch.

»Auf Wiedersehen, Frau Swaan …«

Er sah sie noch einen Augenblick in der Haustüröffnung, und er hatte das Gefühl, diese Frau, die er zu Hause überrascht hatte, fassungslos in der angenehmen Wärme der Villa zurückzulassen. Und es gab noch andere, sehr feine, unbestimmbare, aber von Angst geprägte Spuren in den Augen der jungen Mutter, die nun die Tür schloß.

Maigret und Pietr der Lette
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